Es ist einfach DAS häufigste Thema, das mir in meiner Praxis begegnet: Menschen benennen es meist selbst: "Ich kann einfach nicht Nein - Sagen!"
Ich möchte in diesem Artikel jetzt gar nicht auf die genauen Hintergründe der Problematik eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Aber ich möchte sehr wohl aufzeigen, was es bedeutet und wozu es führt.
Grenzen zu haben, ein Individuum zu sein, etwas "Unteilbares" zu sein, ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen. Im Mutterleib sind wir eng verbunden mit der Mutter, quasi eine Einheit, es folgt die Ent- bindung von der totalen Abhängigkeit, Nähe und Bindung bleiben weiter wichtige Grundbedürfnisse die unser Überleben als Kind sichern. Aber jetzt gibt es da auch noch andere Bezugspersonen, und so entwickelt sich das Kind weiter in Richtung Abnabelung und Autonomie: Die Trotzphase, sich Ausprobieren, eigene Erfahrungen machen wollen, sind typische und so wichtige Autonomiebestrebungen die jedem Kind innewohnen. In der Pubertät kann diese Autonomiebestrebung noch einen Schub erfahren, es geht um die Abnabelung vom Elternhaus, dem "zum Erwachsenen" werden, das in der Adoleszenz bis zum ca 30. Lebensjahr ausreifen darf.
(C.G. Jung meinte, dass der Weg der Individuation letztlich aber nie ganz abgeschlossen ist, aus seiner Sicht durchlaufen wir archetypische Phasen der Entwicklung, aber das ist Stoff für einen anderen Artikel.)
Individuation und Grenzen, das Nein - und Stop sagen können, sind in der Selbstwerdung neben den Bindungserfahrungen also entscheidende Grundbedürfnisse. Wie generell die Achtung der eigenen Bedürfnisse die gute Beziehung zu sich selbst gestaltet, ist eben auch das Bedürfnis nach Grenzen enorm wichtig für Autonomie, das innere Aufrichten, die natürliche Autorität. Und da kommen Menschen so häufig in innere Konflikte, die auch zu äußeren Konflikten führen können. Wenn ich meine Grenzen nicht kenne, die dazugehörenden Emotionen die mir diese Grenzen aufzeigen nicht spüre oder aber nicht ernstnehme, werden meine Grenzen fast zwangsläufig irgendwann von Anderen überschritten werden. Das soll die Grenzüberschreitung keinesfalls rechtfertigen - nur den Teil der Eigenverantwortung klarmachen! Der Mensch nimmt sich selbst nicht ernst, seine Emotionen nicht ernst, seine Grenzen nicht ernst, was sagt dies also über die Beziehung zu sich selbst aus? Häufig wird lieber zugunsten der Emotionsvermeidung dem Konflikt aus dem Weg gegangen, die Wut, der Ärger hinuntergeschluckt, und die Emotion richtet sich so letztlich - gegen sich selbst, oder es wird das Problem mit sehr vielen anderen Personen besprochen, nur nicht mit der betreffenden Person selbst. Oder aber, irgendwann, so äußern es viele, explodiere man - gelöst ist gar nichts, üblicherweise kommt das Problem, das jetzt verlagert wurde, bald bei der Hintertür wieder herein.
Diese Problematik kann sich also in den Auswirkungen vom inneren Unwohlsein, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten, jedenfalls aber einer gesteigerten inneren Anspannung und einem starken inneren Kritiker äußern. Alles in allem erzeugt dies also ziemlich viel Stress - und der Selbstwert leidet enorm.
Solcherlei selbstschädigendes Verhalten findet sich leider immer noch sehr häufig vor allem bei Frauen. Das mag stereotyp klingen, ist aber aufgrund der gesellschaftlichen Rolle der Frau in den letzten Jahrzehnten gut nachvollziehbar. Häufig setzt sich dann noch Schuld oder Scham an die Stelle von Wut und Ärger (also der Emotion die uns auf Grenzverletzungen aufmerksam macht) - weil verärgert sein als "grundsätzlich falsch oder böse" angesehen wird - ein verbreiteter emotionaler Glaubenssatz. Fakt ist, Wut und Ärger sind nicht immer falsch, manchmal ja, manchmal nein, dies ist es was zu differenzieren wir manchmal aufgefordert sind, aber grundsätzlich ist Ärger wie jede andere Basisemotion einfach eine enorm wichtige schützende Emotion.
Es ist jedoch auch das Nicht-Respektieren von Grenzen Anderer letzten Endes ein selbstschädigendes Verhalten. Es ist normal, dass wir ab und an Grenzen überschreiten, aber es nach erfolgter Grenzziehung des Gegenübers es immer wieder zu tun, wird irgendwann in unangenehmen Konsequenzen münden.
Die fehlende Kompetenz im Umgang mit Emotionen, Grenzen und Bedürfnissen, kann sowohl die Beziehung zu sich, als auch die Beziehung zum Anderen enorm beeinträchtigen. Emotionen weisen uns auf unsere wesentlichen Bedürfnisse hin, auch auf unsere Grenzen. Sind wir also aufgrund einer verbesserten emotionalen Kompetenz in der Lage Grenzen zu ziehen, steigt langfristig unser Selbstwert, eine zunehmende innere Autorität stellt sich ein, wir fühlen uns wohl!
Viele meiner Klienten wissen auch nicht genau, WIE denn jetzt Grenzen am Besten gesetzt werden. Die einfache und doch nicht leichte Antwort darauf lautet: Durch bei sich bleiben. Die DU - Botschaft aus der Emotion heraus ist da eher kontraproduktiv, echte ICH - Botschaften wollen gelernt sein, denn sie sind ganz sicher nicht etwas, das in jeder Erziehung vorhanden war, in der Schule gelernt wurde oder über die Leistungs- und Bewertungsgesellschaft in der wir leben vermittelt wird. Aber sie ist dennoch lernbar und ermöglicht echte Selbstsicherheit.
"Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht. Deine Gegenwart ist das wertvollste Geschenk, das du einem anderen menschlichen Wesen machen kannst. Depression ist die Belohnung fürs Bravsein."
Marshall D. Rosenberg
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